Tuesday, January 24, 2006

Augen der Großstadt

"Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem
Gang, die dich vergaßen.
Ein Auge winkt, die Seele klingt;
du hast's gefunden, nur für Sekunden.
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider - Was war das?
Kein Mensch dreht die Zeit zurück.
Vorbei, verweht, nie wieder."
(Kurt Tucholsky)


Die Großstadt. Mit einem Buch
vor der Brust schneiste ich
heute morgen die Meter vom Bus
zur Arbeit mir frei, durch den
Menschenmaelstrom, das Buch
einer Rüstung und einem Schwert
gleich gleichzeitig.

Eigentlich ist es die Tugend
der Gleichgültigkeit, die mir
und uns allen es erst erlaubt,
es in so einer unfreiwillig
gemeinsamen Lebenswelt
überhaupt auszuhalten.
Die moderne Großstadt
kann ja nur so funktionieren.

Und genau deshalb ist es vielleicht
auch so ungehörig, in der Bahn
oder dem Bus diese eherne Regel
zu brechen, und die Blicke eben
doch auf Braue oder Kinn des
anderen (machen wir einander
nichts vor: der anderen) verweilen
zu lassen.

Ob die dabei gelegentlich
empfunden leichten Stiche ob
der unerbittlich nach vorne
weisenden Zeit, wie Tucholsky
sie kennt und nennt, vielleicht
noch ungehöriger als die Blicke sind?

Dass mein gedrucktes Schwert
heute morgen zu allem Überfluß
eine Monographie über die
Grenzen, die Nähe, und die
Bedingungen des Raums war,
passte ja auch ganz gut.

Monday, January 23, 2006

Beuys staucht die Helix.

Der auch schon lange tote
Joseph Beuys, dem heute
an mancher Stelle gedacht wird
("Lichtgestalt"), soll überleiten
vom Artokraten Marinetti:

"Es ist der avantgardistische Gedanke der Erlösung der
Welt durch Kunst, den Beuys in seinem Leben wie Schaffen
fortschrieb: die Idee einer ästhetisch-ethischen
Durchbildung der Gesellschaft, vermittelt durch Heilssymbole,
durch Gründung von Institutionen, durch Vorträge und Aktionen.
Damit rief Beuys nicht nur eine in ihrer Wortfülle sprachlose
Bewunderung hervor, sondern auch Widerspruch. [...]
Seine härtesten Kritiker hielten ihm gar vor, sich durch
die Absturz-Episode der Tätergeneration entziehen
zu wollen.

Daran ist zumindest wahr, dass Beuys mit seinen
mythologischen und alchemistischen Anleihen sich
aus der geschichtlichen in eine
zyklische Zeit
verabschiedete, mit immer wiederkehrenden
Symbolen eines zukünftigen Paradieses."

(Holger Liebs in der SZ , 23.01.2006)

nachtrag was nie war.

So viel zu lesen, so viel
zum selbst verstehen, und
dabei wäre es dann oft
doch viel besser und auch
lustiger, sich zu den
Vordenkern an den Tisch
setzen zu können, und bei
ein, zwei Bieren oder auch
einem mit Stahlkugeln
gefüllten Huhn
mal die
ganzen Abzweigungen, und auch:
Abwege, besprechen
zu können.

Tuesday, January 17, 2006

another proof that brains don't carry a stopwatch.

"Der Sprung in der Teetasse ist ein Weg,
der ins Reich der Toten führt" *), said
W.H. Auden, said Julien Green, says
Botho Strauß.

No, seriously, this was the first
thing that came to mind this
morning when I awoke after
a heavy and dream-drowned
night.

It is at nights when the brutality
of physical laws, also of those
our little log here is consumed
with, comes to a rest. It is
brought to halt for a while, so
our minds can stretch out and
test their real imaginative power.
Our minds exercise a bit in
lighter and more poetic forms
of communication, and this is
where the dead come in.

Much to my surprise, I was
greeted tonight by our
beloved cat, which has in fact
been dead and vanished for
quite some time now. It strutted
around, a bit hesitant, and seemed
to show off the new necklaces it
was wearing. Two shiny
reflecting rainbow-coloured bands,
which we would have never dared
to put around its neck

[although we might have been
able to say goodbye to her, if we had
back then], plus something
that reminded me of those name tags
ill-tempered members of the ground
personnel use to put on my suitcase.

Soon it was chased around by
its brother tomcat, as ever, and
left before I could call in my
partner to greet our guest.

And so do all the other
significant dead pay a visit
one or the other night. It is one
of the great reasons to fall asleep:
the prospect of meeting those beloved
ones again, even if it has to take place
in this faint, remote, and
unsensual timbre that these
encounters inevitably bear.

It is also the same inevitability, the
coercive terror of physics that painfully
kicks back in whenever I awake,
which tells me that I am alive and
they are not, that I will have to
carry on and they will rest
another day.

*) "And the crack in the tea cup opens /
A lane to the land of the dead.
" from W.H.
Auden:
"As I Walked Out One Evening", 1937

Monday, January 16, 2006

A tribute to Ralph Ellison

Gestern, am Ende eines eigentlich guten Samstags, verließ
ich nach einem Bier zur Nacht den Pub durch den
Hinterausgang. Ich stand einfach auf, zog meine Jacke an,
und näherte mich der Tür, und dachte dabei: Invisible Man,
unsichtbar.

Gut, natürlich war dies nicht zufällig ein Gedanke; gerade am
Nachmittag hatte ich in der Tate Modern eine Postkarte
von Jeff Walls so benanntem Bild erworben, um dieses
Lieblingsbild auch hier in meiner Klause gegenwärtig zu haben.

Und doch erschien es so nahe liegend. Unsichtbar, unter den
Menschen. Undurchdringlich auch. Abgrenzung,
Distinktion immer auch dort, wo
sie gänzlich unnötig ist.

„Sein in der Anonymität ist schlecht, weil es
mich auf mich selbst zurückwirft, und mit mir
allein bin ich ja oft genug. Sein mit den anderen
scheint aber auch nicht möglich, sonst wäre es
mir in den letzten acht Jahren vortrefflicher
gelungen. Diese Erkenntnis tritt mit einer gewissen
Regelmäßigkeit zu tage, und entzieht sich doch
ihrer eigentlichen Rolle: jener, ein Schlüssel zu
Veränderung zu sein.“

Tuesday, January 03, 2006

This is the return of the space, cowboy!

"Zeitdiagnostisch gesehen erleben wir derzeit - und auch darauf wird einzugehen sein -, dass eine weit zurückreichende Vorstellung über den Raum immer weniger zu gelten scheint, die der französische Schriftsteller George Perec wie folgt zu charakterisieren versucht hat: 'Der Raum scheint entweder gezähmter oder harmloser zu sein als die Zeit: man begegnet überall Leuten, die Uhren haben, und sehr selten Leuten, die Kompasse haben. Man muß immer die Zeit wissen [...], aber man fragt sich nie, wo man ist. Man glaubt es zu wissen: man ist zu Hause, man ist im Büro, man ist in der Metro, man ist auf der Straße' (Perec 1990: 103). Es ist diese Selbstverständlichkeit in Bezug auf Raum, auf die lokale Verortung und die Ortsgebundenheit, die im Zeitalter von Computern, [Mobiltelefonen] und GPS-Systemen nicht mehr länger zutrifft. Die einstmalige Selbstverständlichkeit räumlicher Bezüge machte den Raum zu einer Art Kontingenzbewältiger. Die derzeitige Unruhe rührt genau daher, dass räumliche Bezüge nun selbst flexibel, kontingent und fragil geworden sind und damit nicht mehr länger als Antidot gegen den Rausch der Geschwindigkeit taugen, der die gegenwärtige Gesellschaft erfasst hat."

Markus Schroer (2006): Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch, p.12f