Wednesday, April 23, 2008

Lonesome George

—In Memoriam Ludwig Obleser, † 23.04.1992

Heute ein Zitat, eine Meditation, eine Affirmation; ein lautes Ja, das eigentlich ein schweres Nein ist, nämlich, einfach:

Nicht zu Ende denken.
Nicht Mitmachen.
Die Freizeitangebote
nicht wahrnehmen.

Aber auch: Nicht sterben, noch nicht. Wir hören einen langsam, zögerlich Sprechenden, der fast selbst zu erschaudern scheint vor der Tragweite seiner Idee:

“Es gibt da auf dieser Insel eine Schildkröte, und die heisst Lonesome George. Lonesome George, das ist wirklich wahr, ist das letzte Tier seiner Art, und wenn Lonesome George stirbt, ist diese Art ausgestorben. Und nun haben Biologen herausgefunden, dass 300, 200, 300 Kilometer entfernt auf einem anderen Archipel zwei Schildkrötenweibchen leben, die dieser Art ähnlich oder verwandt sind, und jetzt haben sie die natürlich nach Galapagos geholt zu Lonesome George, und warten nun seit gut 20 Jahren darauf, dass sich Lonesome George fortpflanzt, aber der will natürlich nicht—was vielleicht auch verständlich ist, denn das Tier ist ja 157 Jahre alt—und diese Biologen aus der ganzen Welt holen diesem Tier jeden Morgen einen runter, das stimmt tatsächlich, und der will aber eben nicht.

Und ich stand vor diesem Tier, und das war ein erstmal ganz berührender Augenblick, ich komm gleich drauf warum ich das erzähle, und man schaut dieses Tier an, das hat einen Kopf, so gross wie ein menschlicher Kopf, und der Panzer so gross wie, naja, so ein Ofen oder Kühlschrank, ein grosser Kühlschrank, und ich hab diesem Tier in die Augen geschaut und gedacht: Der will natürlich der Letzte seiner Art sein, der will sich gar nicht fortpflanzen.

Und: Lonesome George hat etwas begriffen. Dieses Tier hat es begriffen, dieses Tier will nämlich nicht: Schwimmen gehen, dieses Tier will nicht, wie nennt man das: Die Freizeitangebote wahrnehmen, dies Tier will nicht in irgendeiner gemähten Parkanlage spazierengehen. Dieses Tier hat etwas verstanden. Dieses Tier will nämlich nicht mitmachen.

Jetzt könnte man sagen, dass ein Tier nicht denkt, aber wenn man vor diesem Tier steht und weiss: Dieses Tier isst im Schnitt 5 Kilo Salat am Tag und bewegt sich ungefähr 5 Meter fort, und das seit 157 Jahren—man kann sich einfach nicht vorstellen, dass ein Tier 157 Jahre im Schnitt am Tag 5 Meter geht und 5 Kilo Salat isst und nichts denkt.

Und das ist vielleicht das Irre, vielleicht ist es ja auch so, dass Lonesome George, diese Schildkröte, seit 157 Jahren, nicht nichts denkt, sondern einen Gedanken anfängt zu denken und aber nicht zu Ende kommt. Also wie so eine Welle, die sich aufbaut, aber niemals bricht; dass die so Wasser nachsaugt [atmet ein], wie so ein Kreislauf, der aber nicht zum Ende kommt.

Und als ich diesen Gedanken hatte, haben sich meine gesamten Worte auf diese Idee dieses Kreises gelegt, also, wie diese Welle, also ich bin durch die Gegend gelaufen, und alle meine ganzen Worte, oder: die Gedanken haben sich auf diese Welle, diese niemals brechende Welle gelegt wie so ein kreisförmiger Strudel war das in meinem Kopf, und ich hab, also, es war, ich bin fast verrückt geworden, und——ich hab mich gefragt, ob——vielleicht könnte Lonesome George auch sowas wie ein Vorbild sein für uns. Dass dies Tier——

Weil man sich immer hinstellt, oder weil auch in der Politik die Leute sich immer hinstellen und sagen: So, wir wissen wie es geht, wir haben den Gedanken zuende gedacht, wir werde jetzt das und das tun, aber dass es vielleicht viel schöner wäre, zuzugeben, dass man einen Gedanken gar nicht zuende denken kann, und vielleicht auch nicht soll; dass das vielleicht besser ist, und vielleicht könnte Lonesome George, also diese Schildkröte, auch so etwas wie ein Wappentier werden für die Stadt jetzt hier oder vielleicht für ganz Deutschland. Das habe ich mir so überlegt.”


Huldigendes, nichtauthorisiertes Transkript aus Kamerun, S. (2006) Ein Menschenbild, das in seiner Summe null ergibt; Hörspiel. Köln: Westdeutscher Rundfunk.


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