Friday, August 07, 2009

Dreifachimpfung

“Verworrensein und Nicht schreiben Können ist noch kein Surrealismus”
—Gottfried Benn


Ich sitze in einem weißen Plastikstuhl. In Belgien fällt alles auseinander, höre ich. Ich entnehme dies einer fast weißen Postkarte, die umseitig den fiktiven Reporter eines non-fiktiven Journals bei seinem (fiktiven) Russland-Abenteuer aus dem Jahre 1929 zeigt. Belgien zerfällt? Im Frühjahr, wenn dickes Blut in dünnen Ärmchen auf 9 Atmosphärenüberdruck durch die flämische Hölle strampelt, frage ich mich ohnehin immer, ob diese eindrücklichen Pflastersteine nicht direkt aus der Zeitmauer herausgebrochen sind einst. Nun liegen Sie dort.

Ein anderer Schamane, Paco sein von Zeitungsblättern umrankter Name, erzählt von Reisen entlang einer anderen, von ihm mythisch aufgeladenen, vor allem aber wesentlich besser präparierten Piste, der Autobahn 38. Er zeigt mir neue Bilder; wieder hat er also eine Gruppe blasierter und vom Posthistoire schon ganz gelangweilter Großstädter ins Südharz gelockt, dieser Jeffrey Dahmer des Speedtourimus. Die Photographien resonieren mit Bildern in mir, die ich längst verloren glaubte; wieder das Kaffee Kolditz, wieder die Storm-Statue, wieder dieser schlimme Tyler-Brulé-McDonalds.

Indes erwähnt in Amerika ein Schriftsteller, dem ein anderer, mit den Kolditzschen und den belgischen Mythen nicht unassoziierter Scharfgeist einmal bei einem französischen Butterhörnchen und Kirschmarmeldade mit etwas starkem Bourbon-Vanille-Aroma vorwarf, doch nur von Sex zu schreiben, in seinem neuen Buch diese weißen Stühle, diese aus Plastik, und feiert auch den Namen des europäischen Experten auf diesem Gebiet, Monoblocist Jens Thiel.

Da wird mir dann vollends etwas schwindelig auf meinem Balkon, zu viele Querbezüge, und die 3-fach-Impfung (REPEVAX) gegen Ironie, Ennuie und Misanthropie vom Anfang der Woche haut wieder rein. Ich hole einen mit einem Putzeimer voll lauwarmem, um nicht zu sagen: heilignüchternen Wasser. Ich reinige das weiße Plastik vom Schmutz; vor allem Reifenabrieb einer dritten, sehr ausgefahrenen Piste, an der wir alle gerne großes Weltengericht halten. Ich gieße mit einer Haltung, die mich selbst an Liebenswürdigkeit erinnert, einen großen Pflanzengast und erwarte, möglichst nichts denkend, die Rückkehr unserer Bel­gien­kor­res­pondentin.



Apologies to our readers who prefer our English posts.

1 comment:

Feel free to etch a postcard on the wall of time: